Risikojob Akademiker? Welche Berufe am meisten durch KI bedroht sind Künstliche Intelligenz frisst sich durch die Schweizer Wirtschaft. Büro-Tätigkeiten werden automatisiert, Mensch und Maschine zu Konkurrenten. Auch ein Hochschulstudium bietet keinen Schutz.

Künstliche Intelligenz frisst sich durch die Schweizer Wirtschaft. Büro-Tätigkeiten werden automatisiert, Mensch und Maschine zu Konkurrenten. Auch ein Hochschulstudium bietet keinen Schutz.

(Bild: Gerd Altmann auf Pixabay)

Wer eine Investment-Beratung braucht oder sein Portfolio umstrukturieren möchte, kann sich dafür an Selma wenden. Die Bankberaterin betrachtet die finanzielle Situation ihrer Kunden, analysiert ihr bestehendes Portfolio und gibt Tipps für mögliche Investments. Dabei ist sie überaus fleissig: Seit Ostern ist sie im Geschäft, in dieser Zeit hat sie mehr als 4000 Kundengespräche geführt.

Und sie hätte noch mehr Kapazitäten. Denn Selma ist eine künstliche Intelligenz, ein Chatbot. Laut ihren Schöpfern hätten Bankberater rund zwei Wochen gebraucht, um all diese Gespräche durchzuführen – allerdings mit einem Team von 30 Personen. Gekostet hätte das 375 000 Franken.

Die Finanzindustrie könnte sich durch künstliche Intelligenz stärker verändern als alle anderen Branchen. Davon geht zumindest eine noch unveröffentlichte Studie des Beratungsunternehmens Accenture aus. Darin wird die Produktivitätssteigerung, die KI in der Bankenbranche bewirken könnte, auf bis zu 30 Prozent geschätzt. Knapp dahinter folgen Versicherungen und Kapitalmärkte.

 

Alles Branchen, die in der Schweiz eine wichtige Rolle spielen – weshalb die Studienautoren das Land als besonders anfällig für KI-Umwälzungen sehen. Bis zu 45 Prozent aller in der Schweiz geleisteten Arbeitsstunden könnten von künstlicher Intelligenz betroffen sein.

Versicherungsbetrüger müssen sich warm anziehen

Das sind keine Projektionen in eine ferne Zukunft. In vielen Branchen gehört KI schon zum Alltag, etwa bei Versicherungen. Sie ist nicht nur eine Helferin, die rund um die Uhr für die Kunden da ist. Die neue Technologie hilft vor allem auch den Firmen selbst. Sie müssen die Daten nicht mehr selber einlesen, die Kunden übernehmen das. Die KI sortiert sie nach Falltypen, fahndet nach bestimmten Mustern und deckt Auffälligkeiten auf. «Wir setzen KI ein, um Betrugsversuche besser zu erkennen», sagt die Helvetia-Sprecherin Rebecca Blum.

Die Unternehmen können so ihre Missbrauchsquote senken, den Service verbessern und Prozesse beschleunigen. Doch was bedeutet das für die Angestellten?

Über 230 000 Schweizer Arbeitnehmer sind laut Accenture als «General Office Clerks», als klassische Büroangestellte, tätig. Bei Banken und Versicherungen stellen sie die Mehrheit des Personals. Allein im vergangenen Herbst haben 12 000 junge Schweizerinnen und Schweizer die Lehre zum Kaufmann oder zur Kauffrau begonnen. Der KV-Beruf galt immer als sicher, solide und anständig bezahlt. Doch gerade bei diesen Berufen ist das Automatisierungspotenzial durch KI laut der Accenture-Studie am höchsten.

Hochschulbildung bietet keinen Schutz mehr

Florian von Wangenheim ist Professor für Technologiemarketing an der ETH und Mitglied des AI Center der Hochschule. Er bezweifelt, dass das KV seinen Ruf als sicherer Hafen wird halten können. «Ich glaube, dass wir auf mittlere Sicht ziemlich viele Tätigkeiten nicht mehr brauchen werden. Mit einer KV-Lehre wird man künftig nicht automatisch davon ausgehen können, einen tollen Job zu bekommen.»

Doch auch Hochschulabgänger sind keineswegs geschützt vor der Konkurrenz der Maschinen. Anders als bei früheren Technologiesprüngen stehen bei generativer KI – den Programmen, die Texte, Bilder, Töne und Codes erstellen können – nicht physische Prozesse im Mittelpunkt, sondern «die komplexen, hochqualifizierten und hochbezahlten Arbeitsbereiche», schreibt die Unternehmensberatung McKinsey in einer Studie vom letzten Jahr.

«Das grösste Automatisierungspotenzial erfahren Arbeitsbereiche, die einen Bachelor- oder Masterabschluss oder eine Promotion erfordern», so McKinsey. Nicht die Arbeiter, sondern die Akademiker müssen diesmal um Lohn und Brot bangen. Bildung bietet keinen Schutz mehr vor Jobverlust. Und mit den Hochschulabgängern können auch gleich die Kreativen ihre Siebensachen packen. Grafik, Marketing und Werbung kann KI auch.

Bei der «Bild» macht KI das Layout

Bereits geht die Angst vor Massenarbeitslosigkeit um. Gemäss der Accenture-Studie glauben 48 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz, dass ihnen KI den Job klauen könnte.

Befeuert wird die Furcht durch Meldungen wie dem Kahlschlag beim Paketdienst UPS, der 12 000 Jobs streicht, weil mehr Aufgaben von KI übernommen werden. Das schwedische Fintech Klarna begründete den Abbau von 700 Jobs mit dem Einsatz der neuen Technologie. Die Sprach-Lern-App Duolingo verlängerte Freelancer-Verträge nicht, weil KI Texte für Sprachübungen erstellen kann. Und die deutsche Boulevardzeitung «Bild» entlässt 200 Mitarbeiter, weil KI nun das Layout macht.

Dass Automatisierung die Effizienz steigern kann, liegt auf der Hand. Ob dies langfristig reicht für den Erfolg, ist aber eine andere Frage. «Die simple Methode ist: Man tut das Gleiche wie heute, aber effizienter», sagt Marco Huwiler, Chef von Accenture Schweiz. Firmen könnten so ihre Kosten senken und sich kurzfristig einen Vorteil verschaffen. «Längerfristig verpassen sie aber Chancen und laufen sogar Gefahr, vom Markt verdrängt zu werden», sagt er.

Swiss hat ein Frühwarnsystem für Shitstorms

Denn KI kann weit mehr als nur Kosten sparen. Sie kann Dinge, die es ohne maschinelles Lernen gar nicht gäbe. Beispiele dafür liefert die Pharmaindustrie. Novartis entwickelte zusammen mit Microsoft GenChem, ein KI-gestütztes Tool, das die Suche nach Molekülen für neue Medikamente beschleunigen soll. Dafür heuerte Novartis 250 Datenspezialisten an – Jobs, die es beim Pharmagiganten zuvor nicht gab.

Auch Roche setzt auf breiter Front auf KI – von der Suche nach neuen Antibiotika über die Analyse von Krebs- und Immunzellen bis zur Überwachung von Parkinsonkranken per Smartphone. Für die Industrie ist der Einsatz von KI ein Mittel, um im Kampf um die Entdeckung von neuen Medikamenten überhaupt mithalten zu können mit der Konkurrenz.

Ein anderes Beispiel ist die Swiss. Eine KI scannt permanent Kommentare auf Social-Media-Kanälen und erstellt daraus Stimmungsanalysen. Die Airline weiss dadurch, wenn irgendwo im Netz ein Shitstorm aufzieht, der sie in Turbulenzen bringen könnte.

Aktuell hat die Swiss einen KI-Prototyp im Einsatz, der die Passagiere beim Einsteigen zählt. Den ersten Test hat er bestanden, die Zahlen stimmten. Nun muss er noch lernen, Passagiere von Crew-Mitgliedern zu unterscheiden. Schafft er auch das, kann das Kabinenpersonal beim Boarding künftig aufs Zählen verzichten.

Stellenabbau in der Schweiz? Fehlanzeige

Die Beispiele zeigen, wie weit der Einsatz von künstlicher Intelligenz in gewissen Branchen schon fortgeschritten ist. Manchmal ergänzen sich Mensch und Maschine, manchmal stehen sie in Konkurrenz. Doch grössere Abbauwellen, weil Tätigkeiten automatisiert werden? Fehlanzeige. «Mir ist kein Fall aus der Schweiz bekannt», sagt Dominik Fitze von der Gewerkschaft Syndicom. Er müsste es wissen, der Verband vertritt die Kommunikationsbranche. Sie ist von generativer KI so stark betroffen wie kein anderer Wirtschaftszweig.

Ähnlich tönt es beim Kaufmännischen Verband und bei den Angestellten Schweiz. «Soweit ich weiss, sind in der Schweiz offiziell noch keine Stellen wegen KI abgebaut worden» , sagt Manuela Donati, Kommunikationsbeauftragte von Angestellte Schweiz. Roche und Novartis strichen jüngst zwar Jobs, beide Firmen betonen aber, dass kein Zusammenhang zur Automatisierung bestehe.

Viele sind noch in der Experimentierphase

Was nicht heisst, dass KI den Arbeitsmarkt nicht trotzdem noch umpflügen wird. Nur wenige Unternehmen seien heute bereits so weit, dass sie KI industriell ausrollen und die Prozesse skalieren könnten, sagt der Accenture-Chef Marco Huwiler. «Die meisten Firmen befinden sich noch in der Experimentierphase. Sie loten aus, wo die grössten Potenziale sind.» In dieser Phase steigt tendenziell der Bedarf nach Arbeitskräften. Es braucht neue IT-Spezialisten, die an der Automatisierung tüfteln, gleichzeitig aber auch das bestehende Personal für die angestammten Tätigkeiten.

Ein Hindernis für den flächendeckenden Einsatz von KI sind veraltete IT-Systeme. «Firmen, die über Akquisitionen gewachsen sind, haben oftmals fragmentierte IT-Architekturen. Sie erschweren die Anwendung von KI», sagt Huwiler.

Huwiler geht davon aus, dass der Umbau noch einige Zeit dauert. «Es ist eine Reise, die sich über die nächsten fünf bis zehn Jahre hinstreckt», sagt er. Erst dann könnte das volle Potenzial der neuen Technologie ausgeschöpft werden. Das hätte einen Lifteffekt für die ganze Volkswirtschaft zur Folge. Laut der Accenture-Studie könnte KI das BIP-Wachstum in der Schweiz bis 2030 mehr als verdoppeln.

Aussenseiter können ganze Branchen umwälzen

Mit welchen Folgen? Wird der Stellenabbau nur auf den Zeitpunkt verschoben, bis die KI die gesamte Wirtschaft durchdrungen hat?

Florian von Wangenheim rechnet damit, dass künftige Stellenstreichungen schubweise kommen werden. Dann nämlich, wenn neue Wettbewerber den Markt aufmischen. «Wenn auf einmal ein Konkurrent auftaucht, der mit viel weniger Personal auskommt, müssen die anderen Unternehmen reagieren.»

Firmen wie Selma Finance geben einen Vorgeschmack darauf. Ein technologisch hochgerüsteter Newcomer greift mit tiefer Kostenbasis die Platzhirsche an. Laut den Selma-Gründern empfanden 86 Prozent der Kunden das Gespräch mit dem Chatbot als hilfreich. 34 Prozent tätigten im Anschluss weitere Investitionen. Der Chatbot hat also das Zeug, klassische Vermögensberater in naher Zukunft unter Druck zu setzen.

Das Ende der Arbeit wurde schon oft prophezeit

Auch Huwiler geht nicht davon aus, dass die Entwicklung weiterhin so glatt verläuft wie bis anhin: «Wenn die Schere aufgeht zwischen jenen, die schnell adaptieren, und den Nachzüglern, wird das den ganzen Markt verändern.»

Das dürfte dann auch auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Traditionelle Firmen werden gezwungen, ihre Kosten auf das Niveau der Herausforderer zu senken. Teure Doppelstrukturen können sie sich nicht mehr leisten. «Gewisse Jobs werden verschwinden, weil die KI gewisse Aktivitäten schneller und besser macht», sagt Huwiler.

KV-Abgänger, BWL-Absolventen und andere Akademiker werden zu den Hauptbetroffenen solcher Disruptionen gehören. Die Angestelltenvertreter machen sich keine Illusionen darüber. «Mit einem Stellenabbau ist leider zu rechnen», sagt Manuela Donati von Angestellte Schweiz. Für Arbeitnehmer in Berufen mit hohem Automatisierungspotenzial sei die Gefahr eines Stellenverlustes real.

Der Einsatz von KI verändere die Jobprofile, sagt Ursula Häfliger, Verantwortliche Politik beim Kaufmännischen Verband Schweiz. «Einige Berufe und Aufgaben werden mit der Zeit verschwinden, während viele andere um neue Aspekte erweitert werden.»

Hoffnung ziehen sie aus Erfahrungen mit früheren Technologieschüben, bei denen ebenfalls Massenarbeitslosigkeit befürchtet wurde. Legendär ist eine Harvard-Studie aus dem Jahr 2013, die zum Schluss kam, dass die Digitalisierung in den nächsten Jahren 47 Prozent der Jobs in den USA ausradieren werde. Büroangestellte wurden auch da schon als die am stärksten gefährdete Spezies genannt. Heute ist die Arbeitslosigkeit in den USA auf einem historischen Tief.

Schon damals wurde ein kleiner, aber entscheidender Unterschied übersehen: Jobs und Tätigkeiten verschwinden, die Arbeit nicht. Das dürfte heute nicht anders sein. «Jede neue Technologie bringt neue Aktivitäten, die wir heute noch gar nicht kennen», sagt der Accenture-Chef Marco Huwiler. «KI führt nicht zu weniger, sondern zu anderen Jobs.»

Nelly Keusch und Guido Schätti, «Neue Zürcher Zeitung»

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