Die Schweiz, eine Insel der Glückseligen Europa fällt im Winter in eine Rezession. Die Schweiz dagegen ist besser gegen die Krise gewappnet – und kann den hohen Wohlstand bewahren.

Europa fällt im Winter in eine Rezession. Die Schweiz dagegen ist besser gegen die Krise gewappnet – und kann den hohen Wohlstand bewahren.

 

Das Klischee der «heilen Schweiz» trifft zumindest wirtschaftlich zu. Die Konjunktur läuft besser als in Europa. Bild: pixabay

Wir befinden uns im Jahre 2022 nach Christus. Ganz Europa zittert vor der Wirtschaftskrise im nächsten Winter . . . Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Helvetiern bevölkertes Land in den Bergen vermag sich der drohenden Rezession zu widersetzen.

Das Bild des wehrhaften Gallierdorfes aus Asterix: Es passt auch zur Verfassung der Schweizer Wirtschaft. Schon nach der Corona-Krise hat sie sich schneller erholt als die in den umliegenden Ländern. Ebenso ist die Schweiz jetzt gegen die bevorstehende Energiekrise besser gewappnet.

Das zeigt die jüngste Konjunkturprognose des Bundes. «Die Unsicherheit ist sehr hoch. Trotzdem gehen wir im aktuellen Basisszenario davon aus, dass die Schweiz eine schwere Rezession verhindern kann», sagt Eric Scheidegger, Chefökonom und Vizedirektor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).

Ein paar Schrammen wird es auch bei uns geben: In den kommenden Monaten trete die Wirtschaft wohl an Ort, prognostiziert Scheidegger. «Doch wenn der schwierige Winter überstanden ist, rechnen wir mit einem Aufholeffekt im nächsten Sommer.» Für das gesamte Jahr 2023 erwartet der Bund ein Wachstum von immerhin 1,1 Prozent.

«Fünf Jahre der Knappheit»

Was für ein Kontrast zur Tristesse auf dem übrigen Kontinent: Gemäss der Länderorganisation OECD ist das Vertrauen der Konsumenten auf ein Allzeittief gefallen – tiefer noch als während der Pandemie. Besonders düster ist die Einschätzung der Bank of England: Sie sagt dem Land die längste Rezession seit der Finanzkrise von 2008 voraus. Ab dem nächsten Quartal bis Ende 2023 werde die Wirtschaftsleistung durchgehend sinken. Zudem klettere die Inflation auf 13 Prozent. Diese Woche hat die Notenbank gar notfallmässig Staatsanleihen aufgekauft, um einen Flächenbrand auf den Märkten zu verhindern.

Auch Deutschland trifft es hart: Finanzminister Christian Lindner sieht wegen der hohen Gaspreise eine «Lawine» auf die Wirtschaft zurollen, es drohten nun «fünf Jahre der Knappheit». Derweil mahnt Wirtschaftsminister Robert Habeck: «Die Gasproblematik kann schlimmer werden als die Corona-Pandemie. Das ist vielen noch nicht klar.»

Bitter ist für Deutschland, dass der letzte Einbruch wegen Corona bis heute nicht ausgebügelt ist. Und nun schrumpft das Bruttoinlandprodukt (BIP) im Jahr 2023 abermals um 0,7, wie die OECD prognostiziert. Die Phase der Stagnation erstreckt sich damit auf vier lange Jahre – während die Schweiz in der gleichen Periode ein Wachstum von 4 Prozent erreicht.

Früher galt: Wenn die Weltwirtschaft niest, bekommt die Schweiz einen Schnupfen. Das kleine, exportabhängige Land war stets besonders stark von den Schwankungen an den globalen Märkten abhängig. Weshalb gelingt es der Schweiz nun plötzlich, sich von der Rezession in Europa abzukoppeln?

Scheidegger verweist auf den robusten Konsum im Inland. «Wir profitieren von der deutlich tieferen Inflation hierzulande. Bei zeitnahen Indikatoren wie Kreditkartentransaktionen stellen wir bislang keinen Rückgang fest. Auch der Treibstoffumsatz ist trotz den hohen Preisen bisher nicht eingebrochen.» Für Stabilität sorge zudem, dass der Arbeitsmarkt enorm gut laufe. «Wir haben eine Rekordzahl an offenen Stellen. Die Erwerbstätigen haben deshalb weniger Sorgen, den Job zu verlieren, was die Konjunktur ebenfalls stabilisiert.»

Claude Maurer, Chefökonom Schweiz der Credit Suisse, rechnet vor, dass die Lohnsumme im ersten Halbjahr um 6,2 Prozent gewachsen ist. Das liegt klar über der jetzigen Teuerung von 3,5 Prozent. «Trotz der Inflation fliesst somit weiterhin mehr Geld in die Taschen der Arbeitnehmer. Denn die Zahl der Berufstätigen nimmt noch immer zu. Ausserdem wechseln viele Leute in besser bezahlte Jobs.»

Fitnesskur für Exporteure

Dieses Beschäftigungswunder – innerhalb von 20 Jahren hat die Zahl der Erwerbstätigen um eine Million zugenommen – spiegelt die beneidenswerte Form der Schweizer Wirtschaft. «Der starke Franken hat dazu beigetragen, dass unsere Exportindustrie schon früh einer Fitnesskur ausgesetzt war», sagt Maurer. «Daher sind die Firmen heute agiler und können besser auf neue Herausforderungen reagieren.»

Gut sichtbar sei dies etwa in der Pharmabranche, erläutert Eric Scheidegger: «Die Unternehmen konzentrieren jene Bereiche mit der höchsten Wertschöpfung in der Schweiz, namentlich die Forschung oder Entwicklung. Um gleichzeitig Kosten einzusparen, haben sie die Zulieferung von Vorleistungen in günstigere Länder ausgelagert.»

Diese clevere Arbeitsteilung habe zur Folge, dass die Schweizer Wirtschaft deutlich weniger Energie verbrauche als vergleichbare Länder. «Die deutsche Industrie zum Beispiel leidet viel stärker unter den hohen Preisen für Öl und Gas. Sie benötigt das 2,5-Fache an Energie, um auf die gleiche Wertschöpfung zu kommen», sagt Scheidegger. Allein der Chemiekonzern BASF braucht am Standort Ludwigshafen so viel Gas wie die ganze Schweiz.

Reformen wirken positiv

Der Erfolg der einheimischen Wirtschaft widerlegt die chronischen Skeptiker. In den neunziger Jahren unkte der damalige Uni-Professor und Buchautor Walter Wittmann, das Land bewege sich auf «Stagnation und Niedergang» zu. Eine halbe Million Arbeitsplätze seien gefährdet. Der Lausanner Professor Jean-Christian Lambelet polterte: «Die reiche Schweiz, das war einmal. Keine andere Nation hat in diesem Jahrzehnt so viel Wohlstand eingebüsst.» Derweil diskutierte die TV-Sendung «Arena» ernsthaft über die Frage, ob man zum «künftigen Armenhaus Europas» werde.

Die Schwarzmaler lagen falsch. Dank den Reformen, die damals angestossen wurden, wie Seco-Ökonom Scheidegger betont. Dazu gehörten die Schuldenbremse, die Personenfreizügigkeit, ein griffigeres Kartellgesetz oder die Öffnung des Binnenmarktes. «Dieser Ruck, der um das Jahr 2000 durch unser Land ging, hat zu mehr Wachstum geführt. Dadurch konnten wir die Spitzenposition beim Wohlstand bewahren.»

Daten der OECD stützen diesen Befund: Demnach erreichen die Schweizerinnen und Schweizer ein Bruttonationaleinkommen von 70 000 Dollar pro Kopf. Darin enthalten sind nebst der inländischen Produktion die Einkünfte der Investitionen im Ausland. Die Zahl ist kaufkraftbereinigt und berücksichtigt somit die höheren Lebenskosten hierzulande. Dennoch übertrifft das nationale Einkommen dasjenige in Deutschland oder Frankreich um 20 bis 30 Prozent.

Weil die Wirtschaft floriert, können die Schweizer zudem viel Geld auf die Seite legen; ihre Sparquote ist weltweit eine der höchsten. Im Schnitt kommt ein Haushalt – bestehend aus 2,1 Personen – auf ein Einkommen von 10 000 Franken im Monat. Davon werden 1200 Franken gespart – die Zuwendungen an die Pensionskasse nicht eingerechnet.

Zwar sind solche Durchschnittswerte mit Vorsicht zu geniessen, weil die Millionäre die Zahl nach oben ziehen. Trotzdem ist es eindrücklich, wie viel Vermögen die Schweizer besitzen. Gemäss dem jüngsten Wealth Report der Credit Suisse kommt eine erwachsene Person im Schnitt auf 700 000 Franken. In Deutschland und Österreich sind es gerade einmal 250 000 Euro.

«Der starke Franken ist für die Haushalte finanziell ein Vorteil», sagt Claude Maurer. «Die Kaufkraft wird gestärkt, und wir können insbesondere gegenüber dem Ausland günstiger einkaufen. Zudem bremst eine harte Währung die Inflation, so dass der Wert des Geldes besser geschützt bleibt.» Seit 2008 ist der Euro-Kurs von 1.60 Franken auf unter 1.00 Franken gefallen. Der Wechselkurs trägt dazu bei, dass die hiesigen Sparer im Vergleich zu den Nachbarn immer reicher werden.

Ein Fuss bremst, der andere gibt Gas

Derweil die Schweiz relativ gelassen auf den bevorstehenden Winter blickt, versuchen die Regierungen in den übrigen Ländern fieberhaft, mit Hilfspaketen die Einkommensverluste abzufedern. Deutschland hat diese Woche einen weiteren Rettungsschirm von 200 Milliarden Euro aufgespannt. In Grossbritannien erreicht das geplante Staatsdefizit inzwischen 9 Prozent des BIP.

Zwar mögen die gigantischen Geldspritzen die Rezession auf kurze Frist lindern. Doch Claude Maurer spricht von einem Pyrrhussieg. Die Zeche werde dafür später umso teurer. Eric Scheidegger reagiert ebenfalls skeptisch: «Während die Notenbanken scharf auf die Bremse treten und die Zinsen erhöhen, drückt der Staat mit dem anderen Fuss das Gaspedal voll nach unten.»

Die Schlingerfahrt der europäischen Wirtschaft sollte jetzt aber nicht weiter ausser Kontrolle geraten. Sonst käme es wohl auch in der Schweiz zur Rezession.

Albert Steck, «NZZ am Sonntag»

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