Der Missbrauch von Corona-Kurzarbeitsgeldern hat das Management von Lastminute.com den Kopf gekostet. Ein Einzelfall oder die Spitze des Eisbergs? Während der Corona-Pandemie hat der Bund das grösste Kurzarbeitsprogramm der Geschichte finanziert. Unter den Missbrauchsfällen ragt bis jetzt der Reiseanbieter Lastminute.com heraus. Doch die Suche nach Betrügern ist noch nicht zu Ende.

Während der Corona-Pandemie hat der Bund das grösste Kurzarbeitsprogramm der Geschichte finanziert. Unter den Missbrauchsfällen ragt bis jetzt der Reiseanbieter Lastminute.com heraus. Doch die Suche nach Betrügern ist noch nicht zu Ende.

 

Während Corona waren die Flugzeuge am Boden – wurde beim Online-Reisebüro Lastminute.com trotzdem gearbeitet? Bild: unsplash

So etwas hat es in der Schweiz wohl noch nie gegeben: Im Juli vor rund einem Jahr marschierten die Tessiner Justizbehörden beim Reiseanbieter Lastminute.com auf und nahmen das gesamte Topmanagement in Untersuchungshaft.

«Das Unternehmen war von einem Tag auf den anderen geköpft», erinnert sich ein Insider. Der Konzernchef und sein Stellvertreter, der Personalchef und zwei weitere Manager – alle kamen zum Teil für mehrere Monate in Gewahrsam. Der Verdacht: Missbrauch von Corona-Kurzarbeitsgeldern.

Erstaunliche Versäumnisse

Lastminute.com ist bis jetzt der aufsehenerregendste Fall von zweckentfremdeten Corona-Hilfen. Die Firma ist eine grosse Nummer im europäischen Geschäft für Online-Reiseportale. Sie betreibt zahlreiche Websites für Flugbuchungen. Ihre fortschrittliche Technologie für das dynamische Zusammenstellen von Pauschalreisen wird auch vom Branchenprimus Booking.com verwendet. In der Stadt Chiasso ist das Unternehmen mit 500 Mitarbeitern (von konzernweit 1600) der grösste Arbeitgeber.

Schnell wurde klar, dass es bei Lastminute.com zu Unregelmässigkeiten gekommen war. Die Firma verfügte nicht über ein funktionierendes System zur Erfassung der Arbeitszeiten – obwohl ein solches System nach den behördlichen Vorgaben die Voraussetzung dafür war, um überhaupt Corona-Kurzarbeitsgelder erhalten zu können.

Für ein Grossunternehmen war dies ein erstaunliches Versäumnis. Offenbar herrschten bei Lastminute.com ziemlich chaotische Zustände. «Die Firma war sehr unternehmerisch unterwegs und auf schnelles Wachstum fokussiert», erklärt der Insider, «da waren organisatorische Strukturen schlicht vernachlässigt worden.»

Lastminute.com musste die Corona-Kurzarbeitsgelder vollständig an das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zurückzahlen. Der Betrag von 29 Millionen Franken ist aussergewöhnlich: Er macht über ein Viertel der insgesamt rund 105 Millionen Franken aus, die bis jetzt schweizweit an Corona-Kurzarbeitsgeldern an den Bund zurückgeflossen sind. Die Tessiner Justiz klärt nun, ob es bei Lastminute.com nicht nur Versäumnisse wie ein fehlendes Arbeitszeiterfassungssystem gegeben hat, sondern ob das damalige Management Kurzarbeitsgelder vorsätzlich missbrauchte.

Grösstes Kurzarbeitsprogramm der Geschichte

Ist Lastminute.com ein Ausnahmefall, wenn es um die Zweckentfremdung von Corona-Kurzarbeitshilfen geht? Oder ist es eher die Spitze des Eisbergs?

Die Fragen sind relevant, weil die Kurzarbeit während der Pandemie das wirtschaftlich breiteste Hilfsprogramm war. Der Bund zahlte insgesamt rund 16 Milliarden Franken aus. Auf dem Höhepunkt im April 2020 profitierten 156 000 Betriebe und 1,3 Millionen Arbeitnehmer. Es war das grösste Kurzarbeitsprogramm der Schweizer Geschichte.

«Ein absichtlicher Missbrauch von Corona-Kurzarbeitsgeldern ist relativ selten passiert», sagt Boris Zürcher, der Leiter der zuständigen Direktion für Arbeit beim Seco. Sein Amt hat von Whistleblowern und Arbeitslosenkassen rund 2200 Meldungen zu möglichen Unregelmässigkeiten erhalten. Das Seco arbeitet diese Fälle ab. Es hat dafür ein Budget von 25 Millionen Franken erhalten und sich externe Hilfe von 40 Wirtschaftsprüfern der Firmen Ernst & Young und PwC geholt.

Bund durchleuchtet Firmen

Drei Viertel der gemeldeten Fälle sind bereits abgeschlossen worden. Bei rund der Hälfte der Meldungen (970) stellte sich nach ersten Abklärungen heraus, dass es keine Auffälligkeiten gab und deshalb keine Vor-Ort-Prüfung nötig war. Hingegen erhärtete sich der Verdacht in bisher rund 680 Fällen. Die Behörden schickten dann Kontrolleure vorbei.

Allerdings fanden die Kontrolleure nicht bei all diesen Firmen Unregelmässigkeiten. Bei rund 24 Prozent der Unternehmen, die vor Ort geprüft wurden, hatten die Experten nichts zu beanstanden.

 

Am häufigsten kamen unabsichtliche Fehler vor. Sie wurden in 66 Prozent der geprüften Fälle festgestellt. Beispiele dafür sind, wenn Firmen Personen im Mutterschutz oder im Krankenstand versehentlich zur Kurzarbeit angemeldet hatten. Die entsprechenden Gelder mussten zurückgezahlt werden.

Dass häufig Fehler vorkamen, lässt sich mit den Besonderheiten der Corona-Krise erklären. Während früherer Wirtschaftseinbrüche hatten sich vor allem grosse Industriefirmen, die mit dem Instrument Erfahrung hatten, für Kurzarbeit angemeldet. Hingegen waren während Corona plötzlich viele Gastronomen, Hoteliers, Kulturveranstalter oder Handwerker betroffen, die noch nie einen Antrag auf Kurzarbeit gestellt hatten und sich mit den bürokratischen Tücken nicht auskannten.

Betrug ist selten

Wie oft gab es Missbräuche – also absichtlichen Betrug? Dies wurde bis jetzt bei 71 Betrieben (10 Prozent der vor Ort geprüften Fälle) festgestellt. Als Missbrauch wird beispielsweise gewertet, wenn Firmenverantwortliche Arbeitszeiterfassungssysteme manipulierten oder Angestellte zum Arbeiten anhielten, obwohl diese offiziell in Kurzarbeit waren.

Als ein solcher Missbrauchsfall ist die Berner Ferrari-Garage Nemeth bekanntgeworden. Sie muss voraussichtlich rund 250 000 Franken zurückzahlen. Angestellte sollen während ihrer Kurzarbeitstage Offerten erstellt und Kaufverträge unterzeichnet haben. Schweizweit haben Unternehmen bis jetzt wegen Missbräuchen von Corona-Kurzarbeitsgeldern insgesamt rund 40 Millionen Franken an den Bund rückerstatten müssen.

Bisweilen zahlen Firmen Kurzarbeitsgelder auch freiwillig zurück. In manchen Fällen hat das Management ein schlechtes Gewissen und will den Kontrolleuren zuvorkommen. Es gibt aber auch Unternehmen, die Kurzarbeitsgelder selbstlos – ohne Verschulden – zurückgeben, weil sie im Rückblick zu dem Schluss gekommen sind, dass sie die Hilfen nicht gebraucht hätten. Allerdings dürften sich die freiwilligen Rückzahlungen in Grenzen halten. Eine konkrete Summe nennt das Seco nicht, aber sie sind in der Gesamtsumme von bisher 105 Millionen Franken enthalten.

Behörden wehren sich gegen Vorwurf des Schlendrians

Eine offene Frage ist, ob die Behörden genug für die Aufdeckung von Missbräuchen machen. Beim riesigen Volumen des Corona-Kurzarbeitsprogramms von 16 Milliarden Franken ist zu vermuten, dass es viele Unregelmässigkeiten gegeben hat.

Die stellvertretende Chefin der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK), Brigitte Christ, kritisierte jüngst in der NZZ, dass bei den Behörden Schlendrian und Corona-Müdigkeit einziehe. Mit Blick auf die Kurzarbeitsgelder sagte sie: «Wenn es in einem Fall ‹nur› um ein paar tausend Franken geht, kann man schon mal hören, dass sich eine Verfolgung nicht lohne.» Das dürfe nicht sein.

Dem widerspricht Boris Zürcher vom zuständigen Seco vehement. «Wir sind überhaupt nicht Corona-müde. Im Gegenteil: Die Kontrollen der Kurzarbeitsgelder werden mit Vollgas vorangetrieben. Das sind wir den Steuerzahlern schuldig.» Bis Ende Sommer solle die Überprüfung der rund 2200 gemeldeten Fälle abgeschlossen sein. Danach werde man zu sogenannten risikobasierten Kontrollen übergehen, bei denen zahlreiche weitere Unternehmen stichprobenartig überprüft werden.

«Wir werden bis zum Ende der fünfjährigen Verjährungsfrist Missbräuchen konsequent nachgehen – auch bei kleinen Fischen», sagt Zürcher. Firmen hätten weiterhin die Möglichkeit, unrechtmässig bezogene Kurzarbeitsgelder freiwillig zurückzuzahlen – mit dem Vorteil, dass es dann keine Strafanzeige gebe.

Allerdings muss Zürcher einräumen: «Wir werden nicht jeden Missbrauch entdecken können.» Dafür sei die Zahl der Fälle schlicht zu gross. Die Prüfung jedes einzelnen Falles sei weder machbar noch sinnvoll.

14 Führungskräften droht ein Prozess

Für das Unternehmen Lastminute.com ist der Kurzarbeits-Skandal abgeschlossen. Mit der vollständigen Rückzahlung der 29 Millionen an bezogenen Hilfsgeldern ist man die juristischen Verfahren los.

Der neue Firmenchef Luca Concone, der seit Ende 2022 im Amt ist, sieht das Unternehmen auf Kurs. «Lastminute.com agierte früher manchmal wie ein Teenager. Ich wurde geholt, um die Firma erwachsen zu machen. Ich habe zum Beispiel die nötigen Strukturen im Personalwesen oder Controlling eingeführt, damit sich solche Vorgänge künftig nicht wiederholen.» Verwaltungsrat und Management wurden komplett neu aufgestellt. Tatsächlich hat sich das Unternehmen geschäftlich gut von der Pandemie erholt, der Aktienkurs ist jüngst wieder gestiegen.

Noch nicht vorbei ist die Angelegenheit hingegen für die früheren Topmanager von Lastminute.com. Gegen insgesamt 14 Mitarbeiter des Unternehmens ermittle die Tessiner Staatsanwaltschaft noch im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens, sagt Paolo Bernasconi, früherer Staatsanwalt und Rechtsvertreter des ehemaligen Lastminute.com-CEO Fabio Cannavale, der via das Vehikel Freesailors Coöperatief immer noch der grösste einzelne Aktionär des Unternehmens ist.

Bernasconi schätzt, dass es wohl Herbst wird, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind und die Anklageschrift vorliegt. Es sei gut möglich, dass ein allfälliger Prozess erst 2024 stattfinde. Eine Verjährung ist hingegen unwahrscheinlich, da die Frist fünfzehn Jahre beträgt.

Eine Herausforderung für die Strafverfolger dürfte laut dem Ex-Magistraten sein, die Schadenshöhe sowie den Vorsatz der Verantwortlichen nachzuweisen. Wie viele Arbeitsstunden haben die Mitarbeiter der Firma geleistet, obwohl sie offiziell in Kurzarbeit waren? Und welche Führungskräfte haben wann davon gewusst? Damit Missbrauch bestraft werden kann, braucht es dafür Beweise.

Matthias Benz und Dieter Bachmann, «Neue Zürcher Zeitung»

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