Trotz Fachkräftemangel vergeudet die Schweiz ihren wichtigsten Rohstoff: junge Talente Jugendlichen aus bildungsfernen Familien nützt das gute Schweizer Bildungssystem herzlich wenig. Eine Studie beziffert nun den Schaden für das Land: Es geht um 20 bis 30 Milliarden Franken jährlich.

Jugendlichen aus bildungsfernen Familien nützt das gute Schweizer Bildungssystem herzlich wenig. Eine Studie beziffert nun den Schaden für das Land: Es geht um 20 bis 30 Milliarden Franken jährlich.

 

Sek? Gymnasium? Berufsmatur? Hochschule? Jugendliche mit Migrationshintergrund sind bei den Weichenstellungen für ihre Karrieren benachteiligt. Bild: Dominic Steinmann / NZZ

In der 6. Primarklasse hatte Stefan Gligorov keine guten Noten. Alles Mögliche habe er im Kopf gehabt, bloss nicht den Schulstoff, erzählt er. Als dann klar wurde, dass er in die Sek B kommen würde, merkte er den Eltern die Enttäuschung an. Doch als die Noten in der Sek B besser wurden, glaubte er zunächst, damit sei es getan. Erst als der Lehrer ihn für ein Förderprogramm für Migranten vorschlug und er die Aufnahmeprüfung bestand, erwachte sein Ehrgeiz.

Jeden Mittwochnachmittag und Samstagvormittag besuchte er nun den Förderunterricht und wechselte bald in die Sek A. Später absolvierte er neben einer Informatik-Lehre die Berufsmittelschule. Seit ein paar Jahren hat er nun auch einen Abschluss in Informatik an der Höheren Fachschule Uster und damit neue Karrieremöglichkeiten. Seine Biografie hat er für die Organisation Allianz Chance+, eine Vereinigung von Schweizer Bildungsinstitutionen, aufgeschrieben.

Grosser wirtschaftlicher Schaden

Erstmals beziffert nun eine Studie, wie viele Jugendliche sich in einer ähnlichen Ausgangslage wie der heute 30-jährige Gligorov befinden: In der ganzen Schweiz sind es jährlich rund 14 000. Das ist nicht nur schlecht für die Betroffenen, die nicht die gleiche Förderung wie er erhalten, sondern auch für die Schweizer Wirtschaft. Ihr entgehen dadurch jährlich 21 bis 29 Milliarden Franken – das entspricht etwa 4 Prozent des BIP.

Joris D’Incà ist Autor der Studie, die vom Strategieberatungsunternehmen Oliver Wyman Schweiz und der Organisation Allianz Chance+ herausgegeben wurde. Die Zahl von 14 000 Jugendlichen beruhe auf einer Online-Befragung von 1066 Unterdreissigjährigen auf allen Bildungsstufen, sagt er. Sie gaben Auskunft über ihre Schulnoten und über ihre beruflichen Ambitionen. So zeigte sich, dass junge Menschen aus einem bildungsfernen Umfeld trotz Talent und Ehrgeiz ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen können. «Wir haben zwar ein gutes Bildungssystem in der Schweiz», sagt der Studienleiter D’Incà. «Aber der Zugang dazu ist nicht für alle optimal.» Nicht die Leistung oder die Leistungsbereitschaft würden die Karrieren von Bildungsfernen massgeblich prägen, heisst es in der Studie. Es seien vielmehr die informellen Hürden, die schwer zu überwinden seien.

Vorbilder fehlen

Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: Mangelnde Information und fehlende Vorbilder stehen am Anfang. Einen negativen Effekt haben gemäss D’Incà auch die frühe Weichenstellung für den Eintritt ins Gymnasium und die Tatsache, dass die Prüfung in manchen Kantonen ohne teure Vorbereitungskurse kaum zu schaffen ist. Leistungsstarke Schüler und Schülerinnen aus schwachen sozioökonomischen Verhältnissen schaffen den Sprung ans Gymnasium seltener.

Aber auch wer sich für eine Berufslehre entscheidet, kann sein Potenzial oft nicht ausschöpfen. Denn viele Firmen hätten kaum Ressourcen für Talentförderung, manche seien daran auch gar nicht interessiert. Diesen Schluss zieht D’Incà aus Gesprächen mit über 20 Personen aus dem Bildungswesen sowie Wirtschaftsführern diverser Branchen. Viele Lehrbetriebe würden den Besuch der Berufsmaturitätsschule zu wenig fördern.

Über die Hälfte der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen gab in der Befragung an, ihre Einteilung in ein bestimmtes Schulniveau habe für ihr Empfinden nicht gestimmt. Vielen waren offenbar auch die Folgen einer tiefen Einstufung nicht bekannt.

In der Studie werden diverse Massnahmen zur Mobilisierung der Talente vorgeschlagen. Sie reichen von früher Sprachförderung über angepasste Berufsberatungsangebote bis zu Mentoringprogrammen und kostenlosen Vorbereitungskursen fürs Gymnasium. Auch die Arbeitgeber sind gefragt: Sie sollen systematisch Talente fördern und Zutrittsbarrieren abbauen, lautet die Empfehlung.

Fachkräfte importieren ist nicht mehr so einfach

«Wir sehen den Fachkräftemangel als eine der grössten Herausforderungen für die Wirtschaft», sagt D’Incà, der selbst Market-Leader Schweiz beim Strategieberatungsunternehmen Oliver Wyman ist. Das gelte nicht nur für die Schweiz, sondern für ganz Europa. Bis jetzt habe die Schweiz Talente von aussen anziehen können, aber das werde immer schwieriger, da viele Standorte um gut ausgebildete junge Leute kämpften. Deswegen müsse die Schweiz nun den hiesigen Talentpool besser ausschöpfen und sich stärker um das Thema Förderung kümmern.

D’Incà schwebt eine Initiative nach dem Vorbild von «digitalswitzerland» vor. Unter diesem Namen schlossen sich 2016 diverse Player aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zusammen, um die Digitalisierung in der Schweiz voranzutreiben. Nun müsse bei der Talentförderung etwas Ähnliches passieren.

Die berufliche Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund war lange Zeit vor allem ein sozialpolitisches Anliegen. Jetzt wird sie auch zur Notwendigkeit für die Wirtschaft.

«Ich habe nur dank meinem Förderprogramm realisiert, dass ich kein schlechter Schüler bin», sagt der eingangs erwähnte Informatiker Stefan Gligorov rückblickend. Und ohne die Lerntechniken, an denen er dort feilen konnte, hätte er das strenge erste Jahr der BMS wohl nicht durchgestanden. Dann hätte er heute auch keinen höheren Abschluss.

Irène Troxler, «Neue Zürcher Zeitung»

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