Covid-19-Kredite: In diesen Kantonen wurde am meisten betrogen Nirgends wurden so viele Corona-Gelder erschlichen wie in Appenzell Ausserrhoden. Schweizweit nähert sich die gesamte Betrugssumme einer halben Milliarde Franken an.

Nirgends wurden so viele Corona-Gelder erschlichen wie in Appenzell Ausserrhoden. Schweizweit nähert sich die gesamte Betrugssumme einer halben Milliarde Franken an.

(Bild: Marco Peter auf Unsplash)

Zwischen Herisau und Trogen hatte man noch weniger Freude an der Covid-19-Pandemie als im Rest des Landes. Es war in Appenzell Ausserrhoden, wo sich die Corona-Skeptiker zu einer ihrer ersten grossen Demos zusammenfanden. Die Bewohner des Kantons wurden als «Impfmuffel» verschrien, Zertifikatsschwindler machten schweizweit Schlagzeilen. Enthusiasmus entwickelte sich indes in diesem Kanton, wenn es darum ging, sich einen Corona-Kredit vom Staat zu erschleichen.

Das zeigen neue Daten, welche erstmals eine Auflistung der Betrugsquote bei Covid-19-Krediten nach Kantonen ermöglichen. Appenzell Ausserrhoden schwingt obenaus. Missbrauchsfälle machten dort 3,89 Prozent aller beantragten Kredite aus. Am anderen Ende der Tabelle liegt der Kanton Jura mit einer Missbrauchsquote von bloss 0,49 Prozent. Ungefähr dazwischen liegt der schweizweite Durchschnittswert von 2,01 Prozent.

Wie sind solche Unterschiede möglich? Zumindest mit der wirtschaftlichen Struktur lässt sich der Spitzenwert nicht erklären. Die Branche mit der bei weitem höchsten Missbrauchsdichte war der Hochbau (8,36 Prozent), der im Appenzellischen nicht übermässig vertreten ist.

In Appenzell Ausserrhoden ist man von den Zahlen denn auch überrascht. Die Tabelle löse «grosses Interesse» aus, heisst es beim Amt für Wirtschaft und Arbeit. Kommentieren will man sie aber nicht, da die Kredite von den Banken und nicht vom Kanton vergeben wurden.

Als wenige Kreuzchen genügten

Als der Bundesrat im Frühling 2020 das Instrument der Covid-19-Solidarbürgschaftskredite schuf, war dies die grösste staatliche Liquiditätsunterstützung für Unternehmen in der Schweizer Geschichte. Total wurden Kredite in Höhe von 16,9 Milliarden Franken vergeben, sie gingen an 23 Prozent aller Firmen.

Und es ging alles sehr schnell. Kontrollmechanismen wurden, nicht nur in Appenzell Ausserrhoden, faktisch ausgeschaltet. Firmeninhaber brauchten bloss zwei, drei Kreuzchen zu machen, den letztjährigen Umsatz zu notieren und erhielten wenige Tage später maximal 10 Prozent davon kommentarlos auf ihr Bankkonto ausbezahlt.

Der Preis für den Vertrauensvorschuss ist eine jahrelange bürokratische und strafrechtliche Aufarbeitung von missbräuchlichen Bezügen. Unzählige Gerichtsfälle und Strafbefehle zeigen: Nicht selten fanden Phantasiezahlen ihren Weg auf die Formulare. Oder es wurden längst stillgelegte Firmen reaktiviert.

Das Wachstum der neu entdeckten Betrugsfälle scheint ungebremst. Laut neuesten Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) liegt die gegenwärtige Betrugssumme bei 374 Millionen Franken. Dazu zählen offene und abgeschlossene Fälle, bei denen eine Strafanzeige erstattet worden ist.

Innert Jahresfrist ist die Betrugssumme somit einmal mehr um gegen 100 Millionen Franken angewachsen. Experten gehen davon aus, dass noch bis und mit 2025 neue Betrugsfälle entdeckt werden. Die Summe könnte dann die Schwelle von einer halben Milliarde Franken überschreiten.

Chaos oder Betrug?

In der Grössenordnung einer halben Milliarde ist man aber schon heute – wenn man alle Corona-Staatshilfen betrachtet. Denn betrogen wurde nicht nur bei der Soforthilfe, sondern auch bei der Kurzarbeitsentschädigung, die im Umfang von 16,2 Milliarden an Firmen ausbezahlt wurde, um kurzzeitige Arbeitsausfälle zu decken. Auch hier wurden die Gelder rasch und relativ bürokratiebefreit ausbezahlt. Mit der Hilfe von Dutzenden externen Wirtschaftsprüfern stiess das Seco bis heute auf Betrügereien in Höhe von 123,7 Millionen Franken.

Auch bei der Kurzarbeit dürfte noch einiges mehr ans Tageslicht kommen: Die Zahl der Missbrauchsmeldungen steigt kontinuierlich an. Im Fokus stehen Arbeitgeber, die Kurzarbeitsgelder einstrichen und ihre Angestellten trotzdem weiter voll arbeiten liessen. Solche Fälle wurden unter anderem über eine Whistleblowing-Plattform gemeldet.

Der Unternehmer und FDP-Nationalrat Matthias Jauslin kritisierte die Corona-Staatshilfen von der ersten Stunde an. Durch die wachsende Betrugssumme fühlt er sich bestätigt: «Windige Firmenchefs missbrauchten die Pandemie für kriminelle Handlungen, für einige von ihnen waren die nicht existierenden Kontrollen beinahe schon eine Einladung zum Betrug», sagt Jauslin. Der Fokus dürfe aber nicht nur auf den Staatshilfen liegen. «Corona war in allen Bereichen ein betrugsanfälliges Mengengeschäft – hat man bei Arzt- und Spitalabrechnungen oder bei den Impf- und Testzentren auch schon genügend genau hingeschaut?»

Tatsächlich kam es zumindest bei den Covid-19-Testzentren zu mutmasslichem Missbrauch im grösseren Stil. Der Bund hatte von 2020 bis 2022 Kosten von 2,7 Milliarden Franken für mehr als 23 Millionen Covid-19-Tests übernommen. Für die Zentrumsbetreiber ein potenzielles Megageschäft. Zeitweise gab es einen regelrechten Wildwuchs an privaten Testzentren. Und es gab schwarze Schafe, die Rechnungen doppelt an die Krankenkassen schickten oder sogar Tests erfanden. Insider erzählen indes, dass aus strafrechtlicher Sicht sehr schwer zu beurteilen sei, ob eine Firma aktiv betrogen habe oder ob in den schnell hochgezogenen Betrieben «nur» ein Verrechnungschaos geherrscht habe.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat die Aufarbeitung dieser Missstände in den letzten Monaten intensiviert und bereits 19 Millionen Franken zurückverlangt. Zudem hat das BAG mehrere Strafanzeigen gegen Verantwortliche gestellt. Genauere Angaben macht das Amt «aus ermittlungstaktischen Gründen» nicht.

Für die Krankenkassen, welche die in den Testzentren gestellten Rechnungen während der Pandemie kostenlos abwickelten, geht alles zu wenig schnell. «Wir haben den Bund schon frühzeitig im Jahr 2021 über Unregelmässigkeiten informiert und ein dezidiertes Vorgehen verlangt», sagt Matthias Müller, Mediensprecher des Kassenverbands Santésuisse. «Passiert ist seither leider nicht viel.» Der Verband erwarte, dass der Bund schneller und gründlicher gegen mutmassliche Betrüger vorgehe. «Sie dürfen damit nicht einfach so davonkommen.»

Die Betrugsthematik ist das eine, daneben wird auch immer klarer, auf welchen Kosten der Bund sitzenbleiben dürfte. Denn auch von den zu Recht bezogenen Geldern gelangen längst nicht alle zurück an den Staat. Bei den Corona-Krediten ging das Seco bisher offiziell von einem möglichen finalen Verlust von 1,1 Milliarden Franken aus.

Nun schreibt das Seco auf Anfrage von einem möglichen Verlust von 1,7 Milliarden Franken, was 10 Prozent der verteilten Summe von 16,9 Milliarden entsprechen würde. Dies gelte allerdings nur unter der Annahme, «dass bis zur vollständigen Rückzahlung der Covid-19-Kredite keine schwere Rezession mit Konkurswelle eintreffen wird». Zurzeit sind nämlich noch 5,6 Milliarden ausstehend. Ein Fazit will der Bund erst ziehen, wenn das Kreditprogramm im Jahr 2030 offiziell ausläuft.

Mirko Plüss, «Neue Zürcher Zeitung»

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