Demografie-Ökonom Pradhan: «Man erwartet von den Jungen, dass sie für eine alternde Bevölkerung bezahlen, die nicht genug für ihre eigene Zukunft gespart hat» Der Ökonom und Buchautor Manoj Pradhan rechnet für die nächsten Jahre mit anhaltend hohen Inflationsraten. Als Hauptgrund dafür sieht er die demografische Entwicklung. Diese habe zudem Generationenkonflikte und die Enteignung der Sparer zur Folge.

Der Ökonom und Buchautor Manoj Pradhan rechnet für die nächsten Jahre mit anhaltend hohen Inflationsraten. Als Hauptgrund dafür sieht er die demografische Entwicklung. Diese habe zudem Generationenkonflikte und die Enteignung der Sparer zur Folge.

Illustration: Simon Tanner / NZZ

Die Inflation hat ihre grössten Ausschläge nach der Corona-Pandemie hinter sich. In den USA lag sie im Juli bei 3,2 Prozent, in der Euro-Zone im Juni bei 5,5 Prozent – nachdem sie zuvor teilweise zweistellige Werte erreicht hatte. Manoj Pradhan, Makroökonom und Co-Autor des Buchs «The Great Demographic Reversal», hält das Inflationsproblem aber nicht für gelöst.

Er rechnet vielmehr für die kommenden Jahrzehnte mit weiteren Ausschlägen bei der Teuerung. «Die Frage ist, ob die Zentralbanken bereit sind, die Inflation länger tief zu halten», sagte Pradhan in einem Gespräch am Rande einer Veranstaltung der CFA Society Switzerland. Dafür müssten sie eine stärkere Rezession zulassen. Der Ökonom glaubt nicht, dass sie dazu bereit sind.

Japan als Anti-These

Fortgesetzte Zinserhöhungen und eine restriktivere Geldpolitik dürften letztlich die Arbeitslosigkeit in den Industrieländern erhöhen. «Momentan schützen die Zentralbanken die Arbeitsmärkte, so gut es geht. Das ist aber das Rezept dafür, dass die Inflation im nächsten Zyklus zurückkommt», sagt Pradhan. So bestehe die Gefahr, dass die Inflation letztlich zu einem dauerhaften Problem werde.

In dem Buch «The Great Demographic Reversal» hat Pradhan mit seinem Co-Autor Charles Goodhart bereits 2020 einen deutlichen Anstieg der Teuerung prognostiziert. Als hauptverantwortlich dafür sehen sie die Demografie. Die These, dass die Alterung der Bevölkerung inflationstreibend wirke, sorgte dabei für Aufsehen. Bisher waren Ökonomen eher vom Gegenteil ausgegangen – als Beispiel diente vor allem Japan. Das unter einem Bevölkerungsrückgang leidende Land ist seit Jahren von Deflation – und eben nicht Inflation – bedroht.

Nicht mehr so viele Arbeitskräfte verfügbar

Pradhan und Goodhart erklären ihre Annahmen folgendermassen: In den vergangenen Jahrzehnten haben der Aufstieg Chinas und der Zusammenbruch des Ostblocks für einen beispiellosen Anstieg der Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte gesorgt. Hinzu kam, dass in den Industrieländern die Babyboomer, also die geburtenstarke Nachkriegsgeneration, als Arbeitskräfte zur Verfügung standen – bis sie im Jahrzehnt nach 2010 nach und nach in Rente gingen. Hinzu kam noch, dass die Beschäftigung von Frauen in den westlichen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zunahm, so dass das Angebot an Arbeitskräften noch stärker stieg.

Laut Pradhan und Goodhart führten all diese Faktoren dazu, dass die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern geschwächt wurde und dass die Reallöhne in den Industrieländern sanken. Starke deflationäre Kräfte sorgten dafür, dass die Inflation in den Jahrzehnten nach 1990 in den Industrieländern tief blieb.

Die beiden Autoren prognostizierten in ihrem Buch hier nun eine rasante Trendumkehr. Sie verweisen darin auf die niedrigen Geburtenraten in vielen Ländern, die dazu führen werden, dass die Anzahl an verfügbaren Arbeitskräften in den nächsten Jahrzehnten weniger stark wächst. In Ländern wie Japan, China, grossen Teilen Nordasiens und in Kontinentaleuropa – beispielsweise in Deutschland, Italien, Spanien oder Polen – dürfte sie sogar absolut gesehen sinken. Gleichzeitig stehen den beruflich aktiven Arbeitnehmern in vielen Ländern immer mehr Rentner gegenüber. Das geringere Angebot an Arbeitskräften wirkt laut Pradhan und Goodhart inflationstreibend – denn auch die Globalisierung ist ins Stocken geraten.

Globalisierung ist ins Stocken geraten

Pradhan nennt die Globalisierung im Gespräch auch als Grund dafür, weshalb die demografische Alterung in Japan in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu Inflation geführt hat. «In Japan schrumpfte die Zahl der Arbeitskräfte just in einer Zeit, in der auf der Welt wegen der Globalisierung ein Überfluss an günstigen, aber effizienten Arbeitskräften bestand», sagt er. Viele japanische Unternehmen lagerten die Produktion ins Ausland aus, vor allem nach China. In der heutigen Zeit sorgt nun aber die Deglobalisierung unter anderem dafür, dass die westlichen Industrieländer kein ähnliches Ventil haben werden wie damals Japan. Zudem altern sie zusammen.

«Rund 90 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts kommen aus Ländern, die ein demografisches Problem haben», sagt Pradhan. Es gebe aber Unterschiede. Das demografische Problem der USA sei beispielsweise kleiner als dasjenige von Deutschland, Portugal, Südkorea oder China. Aber auch in den Vereinigten Staaten altere die Bevölkerung.

Indien und Subsahara-Afrika mit besserer Demografie

Auch Zuwanderung wird aus Sicht von Pradhan das Problem der Industrieländer nicht lösen. Zwar gebe es in manchen Regionen der Welt einen Überschuss an Arbeitskräften, sagt der Ökonom. «Aber in den nächsten fünf, vielleicht auch zehn Jahren sehe ich keine Regierung, die wiedergewählt würde, wenn sie eine grosse Zahl an Einwanderern ins Land brächte, um den Mangel an Arbeitskräften zu lindern.»

Zu den Ländern, die weniger stark vom demografischen Wandel betroffen sind, zählt Pradhan Indien sowie Staaten in Subsahara-Afrika. «Vor allem Indien hat phantastische Perspektiven», sagt er. Dies sehe man auch an der Entwicklung indischer Aktien. «Selbst in schwierigen Zeiten zieht niemand Geld ab aus Indien.» Trotzdem dürfte das Land die Probleme der Welt nicht lösen können – auch hier spielt das Stocken der Globalisierung eine Rolle.

Politik unter Zugzwang

Aus Sicht von Pradhan müsste die Politik in den Industrieländern viel aggressiver auf die demografische Alterung der Bevölkerung reagieren – mit dem Bau von mehr Alters- und Pflegeheimen, grösseren Investitionen in Technologien und Initiativen zur Heilung von Alzheimer. «Die meisten Politiker reagieren aber erst auf ein Problem, wenn es ihre politische Existenz gefährdet», sagt der Ökonom. «Und von diesem Punkt sind wir noch weit entfernt.»

Trotzdem dürfte es für Regierungen aus seiner Sicht immer schwieriger werden, die Probleme der demografischen Entwicklung einfach auszusitzen – denn diese würden grösser und grösser. Immerhin sei der jüngste, extreme Anstieg der Inflation um 10 Prozent in vielen Ländern ein Weckruf gewesen. «Über die Zeit hinweg werden wir immer mehr Episoden wie die der Regierung von Liz Truss in Grossbritannien Ende letzten Jahres beobachten», sagt Pradhan. «Die Finanzmärkte interpretieren die Fiskalpolitik dann plötzlich als eine Politik ungedeckter Schulden, was die entsprechende Regierung gefährdet.»

Die britische Premierministerin Truss hatte nach ihrem Amtsantritt im September 2022 Haushaltspläne vorgestellt, die Steuersenkungen und höhere Schulden vorsahen und von denen sie sich eine Steigerung des Wirtschaftswachstums erhoffte. Doch die Akteure an den Finanzmärkten goutierten diese nicht, so dass Truss bereits Ende Oktober zurücktreten musste und als britische Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte einging.

Nach und nach dürften die anhaltend hohe Inflation und wiederkehrende Forderungen des Privatsektors nach höheren Zinsen die Fiskalpolitik der Regierungen immer stärker beeinflussen, erwartet Pradhan. «Verschuldete Länder, die dieses demografische Problem haben, rücken ins Visier der Finanzmärkte», sagt er. «Und sobald diese eine Schwachstelle sehen, werden sie diese testen.»

Zunehmende Konflikte

Für unausweichlich hält er, dass die demografische Entwicklung für zunehmende Konflikte zwischen den Generationen sorgt. «Man erwartet von den Jungen, dass sie für eine alternde Bevölkerung bezahlen, die nicht genug für ihre eigene Zukunft gespart hat», sagt er. Die erhöhte Inflation dürfte dazu führen, dass Arbeitnehmer als Reaktion auf Kaufkraftverluste Lohnerhöhungen fordern.

«Die Entwicklung wird für zunehmende Kritik an den Regierungen und den Rentnern sorgen», sagt Pradhan. Gleichzeitig werde sich die ältere Bevölkerung mit ihrer grossen Macht an der Wahlurne bei den Politikern Gehör verschaffen. «Dies wird die Spannungen zwischen den Generationen noch verstärken.»

Die Stimmung belasten dürfte auch die «heimliche Enteignung» der Sparer durch finanzielle Repression, die laut Pradhan unweigerlich bevorsteht. In einem solchen Szenario ist die Inflation anhaltend höher als die Zinsen sicherer Kapitalmarktanlagen, weshalb Sparer damit real gesehen Geld verlieren. «Was Aktien angeht, bin ich aber nicht generell negativ eingestellt», sagt er. Manche Unternehmen und Sektoren dürften stark von der demografischen Entwicklung profitieren. Er rechnet mit der Entwicklung neuer Technologien und ganzer Branchen.

Auch gewisse Chancen für Unternehmen

Pradhan sieht aufgrund der demografischen Alterung auch Chancen für Innovationen, zum Beispiel für Anbieter von Exoskeletten – das sind mechanische Gerüste, die bei Menschen aussen am Körper angebracht werden. «In Japan ermöglichen solche Exoskelette Arbeitern, schwerere Lasten hochzuheben. Solche Technologien könnten älteren Menschen in der Zukunft helfen.» Noch grösseres Potenzial sieht er für Technologien aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz, die Mitgefühl nachahmen. «Es gibt hier neue Programme, die je nach Gefühlssituation von Personen mit dem richtigen Level an Mitempfinden reagieren.»

Allerdings hätten solche Technologien ihre Grenzen, beispielsweise bei von Demenz betroffenen Menschen. Hier könnten Maschinen Menschen nicht ersetzen, es seien weiterhin sehr arbeitsintensive Prozesse nötig. Aus wirtschaftlicher Sicht verstärke dies das Demografieproblem noch.

Michael Ferber, «Neue Zürcher Zeitung»

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