Schweizer Firmen müssen neu in der EU Rechenschaft ablegen Vor drei Jahren sagte die Schweiz Nein zur Konzernverantwortungsinitiative. Nun verlangt eine neue Nachhaltigkeitsrichtlinie der EU viele detaillierte Informationen – auch von Schweizer Firmen.

Vor drei Jahren sagte die Schweiz Nein zur Konzernverantwortungsinitiative. Nun verlangt eine neue Nachhaltigkeitsrichtlinie der EU viele detaillierte Informationen – auch von Schweizer Firmen.

(Bild: Guillaume Périgois auf Unsplash)

«Ja, die Schweizer Unternehmen sind aktuell finanziell und personell stark gefordert, um sämtliche regulatorischen Anpassungen zum Thema Nachhaltigkeit umzusetzen», sagt Erich Herzog, Bereichsleiter Wettbewerb und Regulatorisches beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Wegen der neuen Nachhaltigkeitsregeln befindet sich eine wachsende Zahl von Schweizer Firmen im Ausnahmezustand. Eine Wahl haben sie nicht.

So sammeln heute alle grossen kotierten Publikumsgesellschaften und Emittenten von Anleihensobligationen sowie alle vom Finanzmarktregulator Finma beaufsichtigten Unternehmen intern weltweit riesige Mengen an Daten und Informationen, bündeln diese und bereiten sie kommunikativ ansprechend auf. Involviert sind die verschiedensten Abteilungen wie Recht und Compliance, Personal, Einkauf, Marketing, Finanzen, die Geschäftsbereiche mit nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen, je nach Tätigkeit zudem die Logistik, Immobilien und die Produktion.

Zwar haben viele Schweizer Firmen schon früher Berichte zu sozialen Themen oder zu Nachhaltigkeit publiziert. Doch hat sich die Situation in den letzten zwei Jahren komplett verändert. Die Europäische Union (EU) drückt massiv aufs Gaspedal, um ihre weltweite Führungsrolle zu diesem Thema zu behalten. Die Schweiz ist zwar vorne dabei, hat aber einen pragmatischeren Weg eingeschlagen. Dieser werde aber zunehmend schwieriger, sagen Befragte.

Nach dem Scheitern der Konzernverantwortungsinitiative vor drei Jahren waren aus dem Gegenvorschlag des Parlaments zuerst einmal neue Schweizer Regeln zu Sorgfaltspflichten und zur Transparenz hervorgegangen. Diese traten auf den 1. Januar 2022 in Kraft.

Benedikt Gratzl, Nachhaltigkeitsexperte der Kommunikationsagentur Taktkomm, sagt, dass seither grössere kotierte Firmen, Banken und Versicherungen mit mindestens 500 Vollzeitstellen einen Bericht über nichtfinanzielle Belange zu den fünf Themen Umwelt, Sozialem, Arbeitnehmer, Achtung von Menschenrechten sowie Bekämpfung der Korruption verlangen. Ergänzend dazu gibt es für Firmen spezifische Sorgfalts- und Transparenzpflichten, die bei ihrer Tätigkeit mit Risiken von Kinderarbeit und Mineralien und Metalle aus Konfliktgebieten konfrontiert sind.

Viel umfassender

Natürlich ist schon das Sammeln und Aufbereiten dieser Informationen aufwendig. Doch nun sprengt eine neue Richtlinie der EU mit dem sperrigen Kürzel CSRD, die am 5. Januar 2023 in Kraft getreten ist, diese Dimension noch einmal deutlich. Dort werden es über 1000 Daten sein, die die Unternehmen in zehn Bereichen liefern müssen, sagt Daniel Lucien Bühr, Partner bei der Anwaltskanzlei Lalive. Und hier geht es dann in die Details. So verweist Bühr auf die Umweltbelange, über die eine umfassende Berichterstattung verlangt werde und die Themen von Treibhausgasemissionen, Biodiversität und Wasser einschliesse. Gratzl nennt zudem Datenschutz, Chancengleichheit, Arbeitssicherheit oder Gesundheitsschutz, über die neu berichtet werden muss. Die EU hat zudem neu die Pflicht eingeführt, dass ein externer Revisor diese Berichterstattung von nichtfinanziellen Informationen bei den Firmen überprüft.

Die Richtlinie werde europaweit zu einer massiven Ausweitung des Geltungsbereichs der berichtspflichtigen Unternehmen führen, von bisher knapp 12 000 auf neu rund 50 000 Unternehmen, sagt Gratzl. Er betont, dass in der Schweiz in einer ersten Runde grössere Schweizer Unternehmen betroffen sind, die einen Fussabdruck in einem EU-Land haben, also eine Tochterfirma, eine Niederlassung, oder dort viel Umsatz machen. Diese müssen den Bericht erstmals für den Geschäftsbericht 2023 erstellen. Indirekt aber treffe es auch jetzt schon kleinere Schweizer Firmen, die Teile ihrer Lieferketten bei einer Firma mit einem solchen Fussabdruck in der EU haben. Die Ausweitung der Berichtspflicht ist in der EU etappenweise vorgesehen.

Neue Dimensionen

2023

Die EU verlangt ab dem Geschäftsjahr 2023 viel mehr Informationen zu Nachhaltigkeit.

2024

Im Frühjahr dürften zudem die Regeln für das Management der Lieferketten verschärft werden.

«Die EU-Regulierung geht deutlich weiter, als die Konzernverantwortungsinitiative gegangen wäre», ist von mehreren Zuständigen aus den Firmen direkt zu hören. Bekanntermassen wollte jene Initiative Firmen in der Schweiz zwingend Regeln unterstellen, wenn es um die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards bei weltweiten Tätigkeiten ging. Kommt es jetzt tatsächlich drei Jahre nach dem Scheitern an der Urne doch noch zu einer Einführung der Konzernverantwortung in der Schweiz, quasi durch die Hintertüre Europa?

Nein, sagt Erich Herzog von Economiesuisse, hier müsse differenziert werden. Richtig sei, dass die neue EU-Richtlinie nochmals deutlich mehr Details bei der Berichterstattung verlangt, als das derzeit in der Schweiz der Fall sei. Die Initiative hätte demgegenüber gar keine Berichterstattung verlangt. Der entscheidende Unterschied aber liege an einem anderen Ort, sagt Herzog.

«Einen kühlen Kopf bewahren»

Bei einer Annahme der Initiative hätten Firmen für sämtliche Schäden gehaftet, die von ihnen wirtschaftlich kontrollierte Unternehmen auch im Ausland verursacht hätten. Und sie hätten bei Rechtsstreitigkeiten stets belegen müssen, für einen Schaden nicht verantwortlich zu sein. Normal wäre, dass ein Kläger beweist, dass ein Unternehmen für etwas verantwortlich ist. «Diese fehlgeleitete Haftung mit Beweislastumkehr war der Hauptgrund, warum wir uns damals gegen die Initiative engagierten», sagt Herzog.

Zwar verhandeln das EU-Parlament, der Ministerrat und die Kommission über eine weitere Richtlinie, bei der es um menschenrechtliche und ökologische Sorgfaltspflichten geht und darum, dass jede Firma ihre Lieferketten überprüft. Werden die Pflichten nicht eingehalten, können die Firmen gebüsst werden. Doch wolle die EU keine Beweislastumkehr, wie das die Initiative damals vorsah, betonen Herzog und Gratzl. Noch seien einige Details offen, doch gehen alle Befragten davon aus, dass es hier bis zum kommenden Frühjahr zu neuen Regeln kommt.

Laut Bühr von der Kanzlei Lalive bewahren derzeit die meisten Schweizer Unternehmen einen kühlen Kopf. Schliesslich hätten viele die Nachhaltigkeit bereits in ihren Zweck integriert und würden hier vor allem die Chancen sehen. Doch stellten die Vielzahl an Regelwerken und die teilweise fehlende Harmonisierung tatsächlich eine Herausforderung dar, sagt Bühr. Neben den genannten Regulierungen gibt es weitere länderspezifische Gesetze, in der Schweiz tritt am 1. Januar 2024 eine verbindliche Berichterstattung in Kraft, die auch die Klimarisiken umfassen wird. Alle Unternehmen werden deshalb auch von neuen Rechnungslegungsvorschriften betroffen sein.

Direkt betroffene Mitarbeiter zeigen sich allerdings in Gesprächen weniger motiviert, sie monieren «die viel zu grosse EU-Bürokratie» und sehen eher «wenig Sinn in dieser riesigen Übung». Ganz anders Jan Amrit Poser. Für den Mitbegründer der ersten digitalen Schweizer Nachhaltigkeitsbank, Radicant, ist diese Entwicklung hin zu mehr Transparenz und Verantwortung von deutlich mehr Firmen eine grosse Chance. Im April 2021 gegründet, erhielt Radicant in einer Rekordzeit von zehn Monaten eine Banklizenz, seit August 2023 steht die Banking- und Investment-App zur Verfügung.

«Bei Radicant hatten wir die Chance, erstmals eine komplett auf die Nachhaltigkeit ausgerichtete, digitale Bank auf der grünen Wiese aufzubauen», führt Poser an. Dies zieht sich durch die ganze Bank, beispielsweise verzichtet die Bank auf einen Teil der Debitkartenerlöse und investiert diesen Betrag in Projekte zur Wiederherstellung von Ökosystemen, beispielsweise in die Aufforstung von Mangrovenwäldern.

Der Kern von Radicant ist ihr Ansatz, «ausschliesslich in Unternehmen zu investieren, die wir als Lösungsanbieter für die grossen Probleme der Zukunft in Umwelt und Gesellschaft sehen», sagt Poser. Unter dem Thema Nachhaltigkeit sei bisher meist nur mit Ausschlusskriterien gearbeitet worden. So hätten sich Anbieter auf die drei Elemente Ökologie, Soziales und Governance (ESG) fokussiert und Firmen, welche diese Nachhaltigkeitskriterien nicht erfüllten, aus dem Anlageuniversum ausgeschlossen.

Radicant betrachte die Situation viel umfassender, so Poser. So würden viel weiter gehende Nachhaltigkeitsziele als Kriterien angewandt. Ausserdem werde nicht nur auf das Unternehmen selbst geschaut, sondern auch auf den Betrieb, die Produkte und die Dienstleistungen, welche diese anbieten. Mit der neuen EU-Richtlinie werde der grossen Bedeutung des Themas Rechnung getragen, sagt Poser.

Zoé Baches, «Neue Zürcher Zeitung»

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