Trinkgeld ist Schwarzgeld – weil immer mehr Menschen mit Karte bezahlen, stehen Gastronomen vor einem Problem «Die ganze Branche hat Angst», sagt ein Restaurantbetreiber. Was das Verschwinden von Bargeld mit dem Trinkgeld zu tun hat.

«Die ganze Branche hat Angst», sagt ein Restaurantbetreiber. Was das Verschwinden von Bargeld mit dem Trinkgeld zu tun hat.

(Illustration: Simon Tanner / NZZ)

Trinkgeld ist für die meisten Menschen eine alltägliche Sache. Im Café lassen wir ein paar Franken liegen, im Restaurant schieben wir eine Zehnernote in die Mappe. Mit dem Trinkgeld sagen wir «Danke». Wir drücken unsere Wertschätzung für eine Person aus, die uns gut bedient hat.

Die wenigsten von uns wissen, wohin das Trinkgeld danach fliesst. Wir hoffen natürlich, dass die Kellnerin es behalten darf. Und dann? Das Trinkgeld erscheint weder auf einer Abrechnung noch auf einem Beleg. Man könnte auch sagen: Das Trinkgeld existiert nicht. Es werden weder Steuern noch Lohnbeiträge darauf bezahlt. Und so wird aus dem Trinkgeld in den meisten Fällen Schwarzgeld.

Gestört hat sich daran bisher niemand: Die Arbeitnehmer hatten mehr Lohn, die Arbeitgeber weniger Aufwand, und die Behörden stellten keine Fragen.

Die Praxis hat aber nur Gültigkeit, solange ein Grossteil des Trinkgelds in bar bezahlt wird. Und Bargeld verschwindet. Elektronische Zahlungen, also solche, die mit Karte oder Apps wie Twint erfolgen, machen heute knapp drei Viertel aller Transaktionen aus. Auch das Trinkgeld wird immer häufiger digital überwiesen und hinterlässt Spuren: in der Buchhaltung der Betriebe.

In der Gastronomie, die von allen Branchen am meisten auf das Trinkgeld angewiesen ist, wird das zum Problem. Denn Gelder, die in den Büchern auftauchen, müssen deklariert werden. Aber was ist Trinkgeld? Ist es Lohn? Muss es versteuert werden? Wer ist dafür zuständig?

Bargeld abgeschafft

Manuel Wiesner kennt die Antworten. Wiesner führt mit seinem Bruder die «Familie Wiesner Gastronomie» (FWG), einen der zwanzig grössten Gastronomiebetriebe der Schweiz. Zur FWG gehören 31 Restaurants, etwa das Nooch oder das Miss Miu, das in verschiedenen Städten Lokale betreibt. 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten für die FWG.

Wie viel Trinkgeld diese einnahmen, wusste Manuel Wiesner bis vor wenigen Monaten nicht. Die Mitarbeiter rechneten selber ab, das Trinkgeld teilten sie unter sich auf und nahmen es nach jeder Schicht in bar nach Hause. Wiesner sagt: «Das ist der Standard in der Branche.»

Letztes Jahr dann entschied sich die FWG, das Bargeld in ihren Betrieben abzuschaffen und nur noch elektronische Zahlungen anzunehmen. Das hatte Folgen für das Trinkgeld: Die Angestellten konnten es nicht mehr selber aus der Kasse nehmen, sondern mussten warten, bis die FWG ihnen das Trinkgeld mit dem Lohn überwies. «Da haben wir angefangen, uns Gedanken über die Abrechnung zu machen», sagt Wiesner.

Eine Milliarde Franken Trinkgeld

Historisch betrachtet dürfte es das Trinkgeld in der Schweiz gar nicht geben. 1974 wurde es abgeschafft, laut dem Gesamtarbeitsvertrag für das Gastgewerbe ist das Trinkgeld seither im Lohn des Servicepersonals inbegriffen. Doch manche Gewohnheiten lassen sich nicht per Dekret regeln, bis heute ist es üblich, zum nächsten Fünfer- oder Zehnerbetrag aufzurunden.

95 von 100 Gästen in der Gastronomie geben einen sogenannten «Overtip», im Durchschnitt kommen zum Rechnungsbetrag etwa 6 Prozent hinzu. Geht man davon aus, dass die Gastronomie in der Schweiz einen Umsatz von ungefähr 19 Milliarden Franken erzielt (Stand 2019), dann werden jedes Jahr mehr als eine Milliarde Franken Trinkgeld verteilt.

Gut die Hälfte davon wird auch heute noch in bar entrichtet, der Umfang lässt sich nicht auf den Franken genau bestimmen. So lautet denn auch das Argument der Gastronomen, wenn sie gefragt werden, warum die Trinkgelder nicht in ihrer Buchhaltung erscheinen.

Rechtlich ist die Situation jedoch klar. Das Steuergesetz sagt: Trinkgelder sind Einkommen und gehören auf den Lohnausweis, sobald sie einen «wesentlichen Teil des Lohns» darstellen. So steht es in einer Wegleitung des Bundesamts für Sozialversicherungen, an der sich auch die Steuerbehörden orientieren. Was «wesentlich» heisst, steht da zwar nicht, doch Gastronomen und Arbeitsrechtler sind sich einig: 10 Prozent müssen es sein.

Angenommen, eine Serviceangestellte verdient im Jahr 50 000 Franken: Erhält sie zusätzlich weniger als 5000 Franken Trinkgeld, muss sie das nicht deklarieren. Erhält sie mehr als 5000 Franken Trinkgeld, wird der gesamte Betrag steuer- und sozialabgabenpflichtig.

Thomas Geiser ist emeritierter Professor für Arbeitsrecht an der Universität St. Gallen. Er sagt: «Bisher wollten die Steuerbehörden keine Abrechnungen sehen, da die Trinkgelder nicht in der Buchhaltung erschienen. Ich bin aber der Meinung, dass sich das mit dem bargeldlosen Zahlungsverkehr bald ändern wird.»

Geiser hält die Wesentlichkeitsgrenze von 10 Prozent jedoch für «kompliziert und sinnlos». Seiner Meinung nach müsste das Trinkgeld vom ersten Franken an besteuert werden. Trinkgeld sei, wie anderes Geld, ein Tauschwert – eine Gegenleistung für Arbeit. «Seine Existenz und sein Ausmass können nicht einfach verschwiegen werden», sagt Geiser.

Und das Steueramt Zürich schreibt: «Trinkgelder sind aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung steuerbares Einkommen. Eine Nichtdeklaration wäre rechtlich betrachtet eine Steuerhinterziehung.» Gleichzeitig heisst es, dass das Thema der Besteuerung von digitalem Trinkgeld «nicht speziell behandelt» werde.

Gut für die Rente, gut für die Wohnung

Im Gastronomiebetrieb von Manuel Wiesner werden die Trinkgelder seit diesem Jahr auf den Lohnausweisen der Mitarbeiter deklariert. Voraussetzung ist, dass sie mehr als 10 Prozent des Lohns betragen. Laut Wiesner ist das bei der FWG bei fast allen Angestellten der Fall, die im direkten Kontakt mit Kunden stehen.

Als er sein Personal vor einigen Monaten über das neue System informiert habe, sei das Unverständnis zunächst gross gewesen, sagt Wiesner. «Viele hatten Angst, dass sie weniger verdienen würden.» Kurzfristig gesehen stimmt das auch, der Reallohn sinkt: Ein Mitarbeiter hat am Monatsende weniger Geld auf dem Konto als vorher.

Doch Wiesner hält an den Vorteilen fest. Er sagt: «Der Gesamtlohn steigt, und dadurch steigen auch die Lohnbeiträge an die verschiedenen Kassen.» Angestellte erhielten im Alter eine höhere Rente, seien besser versichert bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfall und hätten grundsätzlich eine höhere Kreditfähigkeit. Das macht Dinge einfacher, zum Beispiel eine Wohnung zu finden.

Das bringt andere Gastronomen in eine unbequeme Lage: Wenn die FWG die Trinkgelder ihrer Angestellten deklariert – welche Gründe haben andere Betriebe, es nicht tun?

Angst vor Kündigungswelle

Der Gastronom Michel Péclard, der 16 Restaurants in der Region Zürich betreibt, sagt: «Wenn irgendwie möglich, möchten wir uns aus dem Thema heraushalten.» Das Geben von Trinkgeld sei ein Vertrag zwischen Kellner und Gast. Der Arbeitgeber habe sich nicht einzumischen, das Trinkgeld sei schliesslich auch nicht umsatzrelevant.

Péclards Geschäftspartner Florian Weber warnt vor dem administrativen Aufwand. Gerade kleinere Betriebe könnten das nicht stemmen und ihren Angestellten darum verbieten, Trinkgeld digital anzunehmen, sagt Weber. «Das würde den Beruf noch unattraktiver machen, und es würde schwieriger werden, Leute zu finden.»

Denn auch das ist eine Wahrheit: Trinkgeld, nicht deklariert, als Motivation, überhaupt erst ins Gastgewerbe einzusteigen. Es kompensiert die unregelmässigen Arbeitszeiten, den tiefen Grundlohn, die körperliche Anstrengung, die mitunter herablassende Behandlung durch Gäste. Was passiert, wenn dieser Anreiz wegfällt? «Davor hat die ganze Branche Angst», sagt Weber.

Und auch beim Verband Gastrosuisse hat man Vorbehalte. Der Präsident Casimir Platzer glaubt, dass das Trinkgeld in den meisten Fällen nicht mehr als 10 Prozent des Lohns ausmache und somit nicht sozialversicherungspflichtig sei. Wo das Trinkgeld deklariert werden müsse, entstünden den Betrieben durch die Lohnabzüge Mehrkosten, während die Mitarbeiter gleichzeitig weniger verdienten. Platzer sagt: «Bei einer Integration der Trinkgelder in den Lohn gibt es nur Verlierer.»

1500 Franken Trinkgeld auf 4000 Franken Lohn

Und dann ist da der kulturelle Aspekt. In den USA sind 20 Prozent Standard, weil das Gehalt in Amerika meist auf einem sehr geringen Mindestlohn basiert und viele Servicekräfte auf das Trinkgeld angewiesen sind. In Japan hingegen ist Trinkgeld nicht notwendig und mancherorts sogar verpönt. Da kann es schon einmal passieren, dass das Personal dem Gast hinterherläuft, um das Geld zurückzugeben.

In der Schweiz ist Trinkgeld geben eine freiwillige Geste. Es ist ein Geschenk eines Gastes an den Mitarbeiter, um besonders gute Arbeit zu honorieren. Der Verbandspräsident Platzer sagt: «Auch aus diesem Grund gehört Trinkgeld nicht zum Lohn, denn es kommt in der Regel nicht vom Arbeitgeber.»

Doch digitales Trinkgeld wird mehr werden. Und die Frage nach dem korrekten administrativen Umgang bleibt. Nicht nur in der Gastronomie, auch andere Berufsgruppen wie Coiffeure oder Taxifahrer werden Trinkgeld immer mehr elektronisch einnehmen. Der Gastronom Manuel Wiesner sagt darum: «In der Branche muss ein Umdenken stattfinden.»

Wiesner weiss nun, dass ein Angestellter im Service mit einem Monatslohn von 4000 Franken bis zu 1500 Franken mit Trinkgeld dazuverdienen kann. «Da müssen wir doch nicht mehr darüber diskutieren, ob das zum Lohn gehört oder nicht.»

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